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Ausschnitt aus dem Gemälde "Großer Turmbau zu Babel" von Pieter Brueghel dem Älteren

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Erich Moechel

Zuviel an Virtualisierung stoppt 5G-Überwachungsstandards

Ein Schrift gewordener Wutanfall des Sekretärs der 5G-Überwachungsgruppe 3GPP/SA3LI dokumentiert den rapiden Verfall der technischen Sitten dort seit Ausbruch der Pandemie. Dabei war schon vorher alles sehr kompliziert.

Von Erich Moechel

Die weltweite Standardisierung der Schnittstellen zur Überwachung in den 5G-Mobilfunknetzen ist durch die Pandemie fast zum Erliegen gekommen. In der zuständigen internationalen Arbeitsgruppe 3GPP/SA3LI der internationalen Telekommunikationsunion (ITU) ist darüber ein offener Konflikt ausgebrochen. Das zeigen aktuelle technische Dokumente, die ORF.at vorliegen.

Bild oben: Ausschnitt aus dem Gemälde „Großer Turmbau zu Babel“ von Pieter Brueghel d. Ä.

Die Grundlage aller 5G-Services, nämlich die Virtualisierung aller Services in Mobilfunk-Clouds hatte die Komplexität der Überwachungsmechanismen schon davor laufend erhöht. Nun hat die durch die Pandemie erzwungene Virtualisierung der Meetings eine Art babylonischer Sprachverwirrung auf technischer Ebene ausgelöst.

Text

3GPP

Diese informelle Note des Sekretariats an die Teilnehmer des virtuellen Treffens vom 29. Mai mit dem offiziellen Titel „3GPP TSG-SA3LI Meeting #81e-b“ ist wie alle 3GPP-Dokumente zwar öffentlich und Public Domain, aber über das 3GPP-Webportal höchstens einzeln aufzufinden. Wer über kein oder zu wenig Basiswissen verfügt, hat allerdings keine Chance, dort Substanzielles aufzufinden, ganz abgesehen von der Verständlichkeit. Der brisante Inhalt dieser unscheinbaren Textdatei wird hier in Folge erläutert.

Eine unscheinbare Textdatei

Seit August 2019 versuchen Strafverfolger und Geheimdienste, die Telekoms zu zwingen, die 5G-Sicherheitsarchitektur entlang ihrer Überwachungswünsche umzubauen.

Die vor Covid-19 übliche Rate dieser Meetings, auf die jeweils ein Konvolut von Dokumenten folgten, lag beі durchschnittlich sechs solcher Treffen pro Jahr. Abgehalten wurden sie fast immer in einzelnen EU-Staaten und in den USA. Ab Anfang 2020 mussten alle ohnehin schon mehr als komplexen Abläufe in dieser Gruppe online abgewickelt werden, seitdem wurden erst zwei dieser Dokumentenѕammlungen publiziert. Die jüngste davon ist Ende Mai erschienen und seitdem hat sich bis zur üblichen Sommerpause kaum mehr etwas getan.

Eines dieser zuletzt publizierten Dokumente sticht dabei sofort ins Auge, allein schon durch sein Textformat (siehe Screenshot oben). Es handelt sich um eine interne Note eines der beiden Sekretäre an die Gruppe, deren Aufgabe es ist, die Abläufe der Standardisierung auf ihre Kompatibilität zu überwachen und ob die Delegierten auch die offiziellen Fachtermini der 3GPP-Organisation einhalten. Seit einiger Zeit haben diese Sekretäre, die vom ETSI (European Telecom Standards Institute) gestellt werden, zusätzlich informelle Interimsentwürfe für die Delegierten produziert.

Text

3GPP

Dies ist eine Übersicht aller für die 5G-Überwachung nötigen Prozesse in Akronymform und auf welcher Netzwerkebene sie eingesetzt werden, unter Berücksichtigung zweier verschiedener Netzwerkkonfigurationen mit Rücksicht auf vier verschiedene Implementationen, die dabei möglich sind. Kein einziges Akronym hat mit den technischen Begrifflichkeiten in 2G- und 3G-Netzen noch irgendetwas gemein.

Die Seuche der Synonyme

Im Mai 2019 hatte Anti-Terror-Koordinator Gilles de Kerchove, die Parole ausgegeben… politischen Druck auszuüben, um die Definition des Standards noch zu beeinflussen.

Diese Interimszusammenfassungen dienen allein dazu, alle an der Standardisierung eines Teilprozesses aktiv Beteiligten über den gerade aktuellen Stand der Dinge zu informieren und die Verwendung der korrekten Fachtermini einzumahnen. In der Welt der Telekoms ist es seit jeher üblich, dass für alle wichtigen Vorgänge in Telekomnetzen bis zu fünf Synonyme existieren, wobei es für alle ein weiteres international gültiges Synonym der Standardisierungsorganisationen gibt.

„Alle Berichterstatter sind nicht nur für ihre eigenen Spezifikationen verantwortlich, sondern auch verpflichtet zu überprüfen, dass sich ihre CRs nicht überschneiden oder einander widersprechen.“ Auf keinen Fall dürften diese informellen Interimsentwürfe des Sekretariats jedoch als Grundlage für die eigenen „Change Requests“ (CR) herangezogen werden. Als Berichterstatter (Rapporteurs) werden jene Delegierten bezeichnet, die an weitere 3GPP-Teilgruppen über die Fortschritte in der Überwachungsgruppe 3GPP/SA3LI berichten. Dadurch verbreiten sich auch technisch falsche Informationen wie eine Seuche in anderen Gruppen, die andersartige 5G-Teilprozesse quer durch die 3GPP-Organisation normieren.

Grafik

3GPP

Dieses technische Diagramm zeigt einen Teilprozess zur Überwachung, der wieder Teil eines übergeordneten Prozesses ist. Nur ein einziger ist davon aus der GSM-Vorzeit übriggeblieben, nämlich LEMF für „Law Enforcement Monitoring Facility“. Im Übrigen handelt es sich dabei um Revision Nummer drei von fünf.

Eine wütende Fastenpredigt, auch an die Obrigkeit

Ebenfalls im Mai 2019 hatten die Telekoms Polizeibehörden und Geheimdienste in SA3LI haushoch überstimmt. Die Stimmrechte dort werden nämlich anhand der geleisteten Mitgliedsbeiträge vergeben.

Und von mindestens einer dieser Gruppen müssen Beschwerden gekommen sein, denn anders lässt sich dieser Schrift gewordene Wutanfall des Sekretärs nicht erklären. Die Drohung, diese technisch-organisatorische Unterstützung einzustellen, ist ein völliges Novum, Vergleichbares konnte seit dem Beginn 3G-Überwachungsstandardisierung im Jahr 1999 noch nie beobachtet werden. Diese wuterfüllte technische Fastenpredigt richtete sich an alle Delegierten, die an dieser Norm für einen von vielen 5G-Services mitarbeiten, der seit dem Start von GSM exklusiv für Polizeibehörden und Geheimdienste in allen Mobilfunknetzen eingerichtet wird.

Der wohl peinlichste Umstand dabei ist, dass diese Note nicht nur an die Delegierten von Telekomausrüstern und Telekoms ging, sondern speziell auch an die technischen Beamten von Polizei, Geheimdiensten und deren angeschlossene Behörden, die in 3GPP/SA3LI die Mehrheit bilden. Unter anderem sind das Vertreter von FBI, ZITIS und Bundeskriminalamt (Deutschland), PIDS (Niederlande), der britische Militärgeheimdienst GCHQ, sein französisches Gegenstück DGSE, nicht zu vergessen die schwedische Försvarets Radioanstalt und andere. Die wiederum sind alle im Technischen Komitee TC LI des ETSI vertreten, aus dem alle Vorgaben kommen, die diese ITU-Gruppe namens SA3LI in technische Normen umsetzen muѕs.

ETSI

ETSI/3GPP

So hatte das Schnittstellendiagramm Ende der 90er ausgesehen, da die Entwicklung der GSM-Überwachungsschnittstelle ETSI ES 201 671 wurde bereits Mitte der 90er Jahre begonnen hatte(www.fuzo-archiv.at Über Kanal H1 fragen die Strafverfolger (LEA) an, um bei einem Kunden der Telekom LI die „Lawful Interception“ einzufordern. Kanal HI2 liefert die Metadaten. Der unterste, rote Kanal CC bedeutet „Call Content“, weil er anfangs nur zum Abhören von Telefonaten genutzt wurde, bis hin zu LTE wurden auch alle Internetdaten darüber überspielt. Auch dieses alte Interface selbst ist von den realen technischen Gegebenheiten schon abstrahiert, denn bereits damals wurden nur seine Kernfunktionen dargestellt.

Die zehn Gebote der Überwachung

Im November 2018 war die 5G-Standardisierung längst angelaufen, fest stand damals aber nur, dass alles sehr kompliziert werden wird.

SA3LI wird weitgehend von behördlichen Delegierten aus Europa und den USA dominiert, ETSI-Personal kontrolliert. Deshalb wurde SA3LI in allen früheren Berichten auf ORF.at auch lange Zeit vereinfacht als ETSI-Überwachungsgruppe bezeichnet, was formaliter natürlich nicht richtig ist. Seit GSM sind diese behördlichen „Requirements“ (i.e. Vorgaben) im Wesentlichen unverändert geblieben, damals wurden sie allerdings anhand der technischen Gegebenheiten in den zentralistisch konstruierten GSM-Netzen erstellt.

Und diese Vorgaben lauten im Wesentlichen so. Auf Anordnung der jeweils „ermächtigten Behörden“ sind alle geforderten Stamm- und Metadaten eines „Anschlusses“ über eine standardisierte Schnittstelle an die jeweiligen Behörden zu liefern. Dazu müssen sämtliche Telefonate auch beim Roaming in Echtzeit mitgeschnitten werden können. Die technische Umsetzung davon erwies sich schon bei 3G als wesentlich komplexer als bei GSM, für 4G wurde sie dann nur noch durch komplexe technische Workarounds ermöglicht. In 5G-Netzen, die GSM (2G) technisch nicht einmal mehr entfernt ähnlich sind, sondern ganz anders funktionieren, erweist sich eine vergleichbare Umsetzung in immer mehr Punkten nach und nach als undurchführbar.

Ein Schlusswort aus der Genesis

„Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe“, Genesis 11/7, zitiert nach Martin Luther.

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