Landvermessung zurück ins Scryptorium




    Einleitung zum Vortrag von Saskia Sassen, A Topography of Private Digital Space (4. Juni 1997, Ars Electronica Center, Linz).
    Sassen ist Professorin für Urban Planning and International Affairs an der Columbia Universita, New York City.
    International bekannt wurde sie mit ihren Thesen zur neuen Rolle der Zentralität und der Global Cities im Rahmen der Welt-Ökonomie.

Die westliche Kultur hat immer gern eine Welt der klassischen Gegensätze forciert:
Inhalt und Form, Geist und Körper, Zentrum und Peripherie, Stadt und Land, Wohnen und Arbeiten, Öffentlichkeit und Privatheit. Die Überwindung dieser Gegensätzlichkeiten war daher immer ein Teil der gegen die moderne Industriegesellschaft gerichteten Sozialutopien.
So auch im derzeit sich ausdifferenzierenden Informationsraum, dem Cyberspace. Welche Tendenzen wohnen seiner bewußten und unbewußten Ausgestaltung inne?

Als zunächst literarische Metapher hat dieser soziale Zusatzraum via electronic networking sehr rasch die Form einer alternativen Öffentlichkeit angenommen, deren Inhalt wesentlich gegenkulturelle Werte bilden. Die stehen aber im Kampf mit den gestalterischen Konventionen des Alltags. Und vielleicht trügt sie auch, diese immer wieder neu belebte Hoffnung auf das ganz andere. Womöglich droht ihr kommerzieller Ausverkauf.
Wissen wir überhaupt, was es, außer dieser vagen Hoffnung, zu verlieren gibt?

Allenthalben erhebt sich ein mythisches Geraune von der Gefährdung des ”Netzes“ durch seine Kommerzialisierung. Mit Sicherheit ist das aber noch nie ein machtfreier Raum gewesen. Wenn Saskia Sassen sagt, daß es an der Zeit wäre, dieses ”Netz“ zu re-theoretisieren, dann steht sie mit dieser Forderung zwar nicht allein, dennoch fehlen die entsprechenden Umsetzungen in einer fundierten Netzkritik. Die wäre einmal anzusetzen hinsichtlich einer profunden sozialwissenschaftlichen Entmythologisierung dessen, was da ist:
wir wissen nur, daß das, was wir gemeinhin mit dem `Netz´, also dem Internet bezeichnen, nur wenig mehr als ca. ein Viertel der heute bestehenden elektronischen Netze ausmacht, deren Zahl mittlerweile über 40.000 betragen dürfte.

  Entmythologisierung des `Netzes´

Wenn wir mehr vom Cyberspace wissen wollen, der für die so vehement propagierte europäische Informationsgesellschaft eine zentrale Rolle einnehmen wird, dann müssen wir uns seinen realen ökonomischen Grundlagen zuwenden. Die Telematik ist deswegen so komplex, weil hier mehrere Ebenen zusammenspielen und weil die Gesetze des Realraumes hier eben nicht außer Kraft gesetzt sind. Die entscheidenden Aktivitäten politischer und wirtschaftlicher Natur - darauf insistiert Sassen - werden außerhalb des virtuellen Raums gesetzt, ebenso wie sich die Grundlagen der Informationsindustrie außerhalb der Sphäre befinden, in der sie zur Wirksamkeit kommen. Bei den telematischen Technologien handelt es sich schließlich um embedded technologies:
”Even the most advanced information industries are installed only partly in electronic space“ (Sassen).

McLuhan hat den Terminus vom Global Village geprägt; was von seiner Vorstellung übrigbleibt, ist der über Kommunikation errichtete soziale Zwang, die eingeschränkte Bewegungsfreiheit, die sich mit dem Leben auf dem Land und in den Dörfern eben auch verbindet. Die Städte haben sich, ganz entgegen seiner unbedachten Prognose, keineswegs aufgelöst.
Welche Chance aber hat Urbanität tatsächlich im telematischen Zeitalter?
Spielt es wirklich keine Rolle mehr, wer man ist und wo man access hat, wo man elektronisch zuhause ist?
Wie spielen die Verhältnisse des Realen und des Virtuellen zusammen, wie läßt sich eine Architektur des Informationsraumes denken?
Sassen fragt:
gibt es eine Entsprechung der ”Electrotectur“?
Das Besondere an ihrem Ansatz ist, daß sie die Frage nach der Urbanität ganz neu aufwirft:
wie gestaltet diese sich unter Bedingungen einer Transformation der Kommunikationsverhältnisse? Bei aller Virtualisierung geht es doch vorrangig noch um die Orte konkreter wirtschaftlicher Aktivitäten.

Wenn ich ihre neuen Untersuchungen richtig interpretiere, dann erhärtet sich der Verdacht, daß der Consumer-demand nicht entscheidend sein wird für die neue Informations-Ökonomie. Pathetische Kulturkritik ist genausowenig Saskia Sassens Sache wie die populäre Cyber-Euphorie. Sie vertritt eine irgendwie aus der Mode gekommene politische Ökonomie, die Strukturen von Wirtschaftsaktivitäten bloßlegt, wie sie sich an den Schnittstellen von Räumen und von Materialitäten der Kommunikation manifestieren. Das sind die Zukunftsthemen einer künftigen Raumplanung, einer Architektur von morgen.

  Zitadellen im E-Space

Die Öffentlichkeit, das ist die res publica. Es gibt keine Entsprechung einer res privata, doch liegt deren Bedingung der Möglichkeit in Entsprechung, in Relation zu ersterer. Die mediale Entgrenzung, durch die eine wirtschaftliche und politische Globalisierung erst möglich geworden ist, hat jetzt neue Abgrenzungsstrategien zur Folge, deren Dimension wir noch nicht kennen. Auf die Einführung der bestimmenden Medientechnologie seit der Renaissance, des Buchdrucks, folgten Jahrhunderte von Religions- und Grenzkriegen, ein Kampf um Glauben, Nation, Sprache und Texte. In unserer Gegenwart ist der Informationsraum zum umkämpften Raum geworden. Mit der Telekommunikation zeichnen sich jetzt neue Grenzzeihungen und neue Segmentierungen ab. Wer sind die Akteure dieses Kampfes, und worum wird gekämpft?

Wichtigkeit gewinnen diese Fragen vor allem hinsichtlich einer neuen Cyber-Segmentierung, die Sassen diagnostiziert: es scheint, wie wenn durch die gesteigerte Attraktivität von Intranets für Firmen eine Art von Zitadellen im elektronischen Raum, durch Firewalls abgesicherte Rückzugsräume, errichtet werden. Nicht nur sparen Firmen enorme Kosten dadurch, daß hier weitgehend öffentliche Strukturen für private Zwecke genutzt werden:

    ”Firms save enormous amounts of money by using the Web for their own internal corporate purposes. (...) The formation of private intranets (that use the infrastructure and the standards of) the Web is probably one of the more disturbing instances of cyber-segmentation.“ (Sassen)

Damit entsteht auch eine neue Geographie der Zentralität des infrastrukturell determinierten Zugangsraumes. Der Dezentralisierung von Kommunikationsstrukturen entspricht ein Konzentrationsprozeß der Machtstruktur.
Am globalisierten Finanzmarkt ist bereits ablesbar, daß es dabei zu neuen Formen der Akkumulation von Kapital kommt.

  Corporate rules?

Das `Netz´ stützt und ermöglicht die Performanz der globalen Akteure. Es vergrößert damit die Kluft, das politische Vakuum, das sich derzeit zwischen MNCs und NGOs auftut (zwischen Multi-National Companies und Non Governmental Organisations, oder im weiteren Sinn zwischen dem `Corporate Sector´ und der `Civil Society´).
Wer oder was repräsentiert noch das öffentliche Interesse, nachdem der Staat mit dem Programm einer `Deregulierung´ des Telekom-Sektors sich sukzessive zurückzieht?

Der neue Wirtschaftskomplex, die neue Raumökonomie des Zentrums und die ins nahezu Unbegreifliche gestiegene Komplexität der Transaktionen (als Beispiel dienen hier die globalen Finanzmärkte) werfen Fragen der veränderten sozialen Ordnung auf, wie der neuen Ungleichheit innerhalb der Städte, der veränderten Organisation des Arbeitsprozesses, oder der informationellen Ökonomie. Indem sie sich dieser Themen annimmt, zeigt Sassen, daß es um mehr geht als um den vereinfachenden Dualismus von information rich vs. information poor: die zunehmende Entwertung industrieller Arbeit und neue Marginalisierungen zeugen bereits von einer Schuldlast der entstehenden Informationsgesellschaft, die künftige Generationen von Soziologen noch beschäftigen wird.

Diese entscheidenden Fragen drehen sich nicht länger um ein mythisches ”Netz“, sondern um reale Macht- und Herrschaftsverhältnisse, und damit natürlich auch um die Krise von öffentlicher Kontrolle. Noch vor aller Empirie ist es die vorrangige Aufgabe einer Retheoretisierung des ”Netzes“, die Dimension dieser Fragen auszuloten.


Saskia Sassen hat die Rolle der Stadt am Schauplatz globaler Prozesse neu interpretiert, vor allem in ihrem Werk über The Global City (1991), gefolgt von Cities in a World Economy (1994), auf deutsch gekürzt erschienen als Metropolen des Weltmarktes. Die neue Rolle der Global Cities (Campus 1996), und zuletzt On Governing the Global Economy (1996).


Hinweis:
Sassen Special am AEC

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