Infographische Orte zurück ins Scryptorium




Kulturen, Orte und Identitäten durchlaufen mit dem Vorhandensein des Netzes eine tiefgreifende Veränderung.
Wir werden lernen müssen, einmal in einem faßbaren und dann wieder in einem unfaßbaren künstlichen Oikos zu leben. Cyberspace, Cyber-Society etc. gelten als materiale und zivilisatorische Zwischennotizen bei der Beantwortung der Fragen, die sich aus der kybernetischen Kränkung des vertrauten Selbst ergeben.

Prof. Dr. Manfred Faßler ist Vorstand der Lehrkanzel für Kommunikationstheorie an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien, sowie Leiter des Evangelischen Studienwerks e.V. in Villigst


Aus dem leichten Nebel erschien das Hinweisschild auf meinen Zielort:
VÖLKERMARKT.
Es war November 1995; irgendwann zwischen 19 und 20 Uhr. Ich kam mit dem Wagen von Wien. Eingeladen hatte mich eine mittelständische Initiative mit ihrem Sitz in Klagenfurt, die um einige kommunikationstheoretische Positionen zu netztechnologischen Entwicklungen angefragt hatte. Ich war in Gedanken; hatte gerade überlegt, wie man in einem hilfreichen Bild globale Netzwerke erklärt. Da kam das Hinweisschild zur Hilfe. Eigentlich könnte man die computergestützen globalen Netzkommunikationen als Völkermarkt beschreiben, dachte ich. Der Gedanke trat in den Hintergrund. Freundliche Begrüßung, Wiedersehen von Kollegen, kurze Orientierung über den bisherigen Tagungsverlauf. Später, während des Vortrags, kam das Bild wieder zurück. Ich berichtete von diesem Zufall. Manche lachten, einige erklärten die Herkunft des Namens. Es gab auch Nachfragen, ob diese Benennung nicht übereilt sei, den wirklichen Ort abwerte, die Integrität der örtlichen Kultur nicht ausreichend berücksichtige. Die Verunsicherung lag vielleicht darin, plötzlich den biographisch bekannten Wohnort namentlich als Pseudonym wiederzufinden; der ´wirkliche Ort´ sprachlich enteignet, de-materialisiert als infographischer Ort, im Irgendwo der globalen Medienstrukturen?

  Cybernetischer Raum

Sicher irritierte, daß ich den lokalen Identitäts-Rahmen für etwas nutzte, das jenseits der bislang gemachten Erfahrungen, also auch jenseits der Identitätschancen herkömmlicher Prägung liegt. Nicht nur, daß der biographische Ort nur Namensgeber, aber nicht mehr Sinngeber war. Auch wurde sofort verstanden, daß der geographische Bezug im virtuellen Raum unbedeutend ist. Seitdem geht mir dieses Wort nicht mehr aus dem Sinn: postgeographische Orte, globale Netzwerke, transkulturelle Kommunikationen, virtuelle Märkte, telepräsente Kulturen - all dies ist ein VÖLKERMARKT. Kommerzialisierung und Kultur, Kreativität und Zivilisation: eine hoffende Benennung oder doch eine Täuschung (?). Etwa ´technologies of freedom´?

Täuschen wir uns nicht: die netztechnologischen Entwicklungen versöhnen nichts. Sie überlagern die vertrauten schwerindustriellen, bürokratischen und massenmedialen Gründe für Differenzierungen; sie heben aber nicht die Empirie der Gegensätze, der Differenzen auf. Computerbasierte Netztechnologien sind Infrastrukturen, die raschen digitalen Datenaustausch ermöglichen, so daß dieser für soziale Beziehungen ohne die raumzeitliche Anwesenheit der Kommunikationspartner genutzt werden kann. Aufgabe der medientechnologischen Struktur ist es, physikalisch schaltbare Verbindungen auf dem entwickeltesten Niveau der Konnektivitäten herzustellen und aufrechtzuerhalten. Dabei muß man bedenken, daß die Nutzung dieser Netze immer voraussetzt, daß man in sie ´eintritt´ und mit ihnen, wie es heißt, interagiert. Dieses Eintreten (Immersion) verändert grundlegend die Medienerfahrung von der Betrachtung zur Benutzung, von der vorrangig passiven Sicht auf die broadcasting-Welten zu den interaktiven Suchbefehlen in den programmierten Strukturen immenser Speicherkapazitäten. Immersion und Interaktivität zwischen Mensch-Computer ´laden´ sozusagen den cybernetischen Raum der Datennetze sozial auf. Sie stellen Sozialität im weiten Sinne des Wortes her.

  Cybernetische Kränkung

Die Vorstellung, ein Mensch ´handle´ mit einem programmierten, nicht-menschlichen System, Mensch und Computer träten in eine kurzzeitige Fusion, ist ungewöhnlich. Es ist eine informationelle oder kybernetische Kränkung von herkömmlichem Kultur- oder Individualitätsverständnis, die gerade auch in den Arbeiten von Neil Postman oder Paul Virilio anzutreffen ist.
Dennoch muß man sich daran gewöhnen, daß die interaktive Nutzung der digitalen Netzmedialität erst die sozialen Formen entstehen läßt, die als virtuelle Nachbarschaften, als Cyberspace, als virtueller Marktplatz oder gar virtuelle Regierung bezeichnet werden.

Netztechnologien überspringen die geographischen Gewohnheiten und Orte. Der radikale Wechsel von Orten zu Netzwerken, von ansässigen Sozialitäten zu nicht-ansässigen Sozietäten leitet den Verlust der symbolischen und faktischen Ortsbezogenheit für bestimmte Bereiche der Kommunikation und Kultur ein. Bislang ungeübte, ungewohnte und unbekannte Raum-Zeit-Beziehungen entstehen. In ihnen trifft individuelles Nutzerverhalten direkt auf die programmierten Potentiale globaler Kommunikation.

Die programmierten Verbindungen zwischen elektronischen Speichern, Computern, die Übersetzungs (Compiler)-Software, die zwischen Maschinencode und Oberfläche das Schaltungsgeschäft regeln, werden im Moment ihrer Nutzung (und nur in diesem Moment) medial gekoppelt mit den Wahrnehmungs-, Differenzierungs-, Reflexions- und Medienfähigkeiten des Individuums. Technologie, Kompetenz, programmierte Selektionsmaschinen und Nutzungsabsichten bilden einen abstrakt-konkreten sozialen Raum, eine off-line/on-line-Umgebung, die von jedem Nutzer dialogische oder interaktive ´Beteiligung´ verlangt.

Es ist - wie mir scheint - nicht der Computer, der als Gerät die Veränderungen erzeugt und die Veränderungsängste bewirkt: es ist die tiefgreifende Veränderung der Wahrnehmungsumgebungen, über die man Orientierung, kreativen Anstoß, Entlastung, oder Anfragen, Eingrenzungen oder Behinderungen erfährt. Vielleicht geht es gar nicht um den wirklichen Ort, der gegenüber den Netztechnologien zu verlieren scheint, sondern um die medienevolutionäre Durchsetzung fluider, unfaßbarer Umgebungen. Sie erzeugen einen massiven Druck in Richtung lernender Anpassung. Sie bewirken ebenso die Einsicht darein, daß weder lokale, soziale noch individuelle Identität jemals ´fertig´ oder ´abschließbar´ sind.

Identitätschancen im informationellen Raum sind darauf verwiesen, diesen Raum als einen Kontext der Orientierung erst zu erzeugen. Insofern wird die rationale, affektive, emotionale oder funktionale Selbstzuschreibung, die wir gelernt haben als Identität zu verstehen, eingefaßt in eine Systematik von elektronischen Pseudonymen, anonymen Nachrichten und heteronomen (von anderen fernbestimmten) Umgebungsanteilen. Nun kann man einwenden, daß dies `schon immer so war`. Setzt man ein sehr allgemeines Bild von Mensch-Umwelt-Differenz an, stimmt das auch. Was die Lage zur Zeit aber kennzeichnet ist die Verschiebung der sozialen Inszenierungsbedingungen von jenen verabredeten und `hart` gemachten institutionellen `frames`, zu wachsenden Ansprüchen an die einzelmenschlichen Integrationsleistungen. Kommunikationstheoretisch läßt sich dies als eine Verlagerung der Anpassungsmuster von ´Massenmedien´ zu ´MassenIndividualMedien´ (Volker Grasmuck) benennen.

  Verkabelung ist nicht Vernetzung

Die informationellen Umgebungen machen jede Fiktion eines übergeordneten Steuerungszentrums ebenso zunichte, wie die Ideologie einer erkennbar grundlegenden Autonomie agrarischer, landschaftlicher oder physikalischer Formen. Die digitalen Netzwerke sind zu Bedingungen sozialer Differenzierung geworden und zugleich Räume, in denen sie stattfindet. Sie sind zu Plateaus des Meinungsaustausches, zu Räumen von Auseinandersetzungen, für Verhandlungen, für Betrug und Erkenntnisgewinn, zu Orten gezielter Verblödung oder virtuellen Labors geworden - und das weltweit auch in inzwischen bildlich exzellenten Echtzeitsimulationen (25 Videoframes pro sec.).
Die Skepsis gegenüber dem ´Völkermarkt der globalen elektronischen Netzwerke´ entspringt, wie ich meine, der Furcht, es sei eine gigantische mediale Dissensfabrik, kaum zusammenzuhalten, kaum zu ´managen´. Nicht auszuschließen ist, daß wir in den immensen Lernprozeß noch gar nicht richtig eingestiegen sind, dessen derzeit vermutete Hauptnachricht ist: Globale Kommunikation bildet sich über die Nutzerinnen und Nutzer aus, und nicht über die zentralistischen Initiativen, nicht über hoheitliche Infrastruktur (auch wenn die ISDN-/Fiberoptik- ´Datenautobahnen´ zu Projekten staatlichen Handelns geworden sind). Die Kabel sind noch lange nicht das Netz. Dieses ist, wie die Grundthese schon erläuterte, nutzerabhängig. Nicht ´das Netz´ wird verkauft (so wie man Bauland verkauft), sondern Personal Computer, private oder kommerzielle Server bilden und erweitern tagtäglich das kanaltechnische Netz mit schwindelerregenden Zuwachsraten durch Nutzeraktivitäten; Benutzerinnen und Benutzer vertiefen und verbreitern seine informationstechnologische Räumlichkeit, lassen soziale Zusatzräume für Kommunikation, Kreativität, Information und Erkenntnis entstehen.

Es bilden sich offene Kommunikationssysteme, die nicht aus untergeordneten Technikanteilen (Computer, Programm, Server, Stecker, Monitor...) abgeleitet werden können. Elektronische Netzwerke sind längst zu einem Phänomenbereich höherer Stufe geworden; in ihnen entsteht das, was in der Theorie Emergenz genannt wird: eine Erscheinung, die aus niederkomplexen Elementen nicht herleitbar ist. Es ist ein Sprung von den Faustregeln der alltäglichen face-to-face Kommunikation über die Programmierregeln der Maschinencodes und der Übersetzungsprogramme bis zu den Multiversionen ihrer Nutzung, den Multivisionen ihrer Deutungen; bis zu den Modellen eines (?) Multiversums.

Netztechnologie ist eine neue ´Große Erzählung´ und eine Vielzahl kleiner Kommunikationsräume. Die Nutzung des elektronischen informationstechnischen Gefüges erzeugt und bewahrt objektives Wissen. Es wird deshalb immer dringlicher, hinreichend komplexe und belastbare Modelle für Netzwerke zu entwickeln.
Das allmählich entstehende Verständnis der engen Verbindungen zwischen abstrakten Wahrnehmungsmodellen, telepräsenter Kommunikation und der Nutzung der Netzstrukturen, ist ein wichtiger Schritt. Allerdings wird er noch nicht von sehr entwickelten Netz- und Knotentheorien begleitet. Dennoch erleichtert die Einsicht darin, daß die physikalischen, mathematischen und materialen Details nicht das erklären, was ´Netz´ soziokulturell und zivilisatorisch sein kann (könnte), die Annäherung an das Thema. Man muß nicht mehr jedes Update wissen, nicht jedes Upgrade kennen, nicht die Cebit 1995, 1996, 1997 durchlaufen haben oder auf die Cebit 2001 warten. Netzkommunikation läßt sich zwar im Sinne eines (informationellen) Instrumentalismus uminterpretieren. Nur schließt dies Aussagen über Wirklichkeit ihrer Nutzung, über den Realismus der Gebrauchskulturen aus, die durch die Mittel der Kommunikation nahegelegt werden. Allerdings ist dies nicht als Bestätigung des zitierten Dauerbrenners zu verstehen: ”The Medium is the Message“ (McLuhan). Dieser Satz wird zu häufig im Sinne des Instrumentalismus aufgeführt. Um die Physik, die Mathematik, die Ökonomie, die Telematik wissend, ist es dringlich, sich dem Zusammenhang von Medialität, Nutzungskulturen, Wahrnehmung, Wissensentwicklung und Veränderungsbedingungen zuzuwenden.

Es folgt Teil 2

zurück ins Scryptorium