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Kulturen, Orte und Identitäten durchlaufen mit dem Vorhandensein des Netzes eine tiefgreifende Veränderung. Prof. Dr. Manfred Faßler ist Vorstand der Lehrkanzel für Kommunikationstheorie an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien, sowie Leiter des Evangelischen Studienwerks e.V. in Villigst Aus dem leichten Nebel erschien das Hinweisschild auf meinen Zielort: Cybernetischer Raum Sicher irritierte, daß ich den lokalen Identitäts-Rahmen für etwas nutzte, das jenseits der bislang gemachten Erfahrungen, also auch jenseits der Identitätschancen herkömmlicher Prägung liegt. Nicht nur, daß der biographische Ort nur Namensgeber, aber nicht mehr Sinngeber war. Auch wurde sofort verstanden, daß der geographische Bezug im virtuellen Raum unbedeutend ist. Seitdem geht mir dieses Wort nicht mehr aus dem Sinn: postgeographische Orte, globale Netzwerke, transkulturelle Kommunikationen, virtuelle Märkte, telepräsente Kulturen - all dies ist ein VÖLKERMARKT. Kommerzialisierung und Kultur, Kreativität und Zivilisation: eine hoffende Benennung oder doch eine Täuschung (?). Etwa ´technologies of freedom´? Täuschen wir uns nicht: die netztechnologischen Entwicklungen versöhnen nichts. Sie überlagern die vertrauten schwerindustriellen, bürokratischen und massenmedialen Gründe für Differenzierungen; sie heben aber nicht die Empirie der Gegensätze, der Differenzen auf. Computerbasierte Netztechnologien sind Infrastrukturen, die raschen digitalen Datenaustausch ermöglichen, so daß dieser für soziale Beziehungen ohne die raumzeitliche Anwesenheit der Kommunikationspartner genutzt werden kann. Aufgabe der medientechnologischen Struktur ist es, physikalisch schaltbare Verbindungen auf dem entwickeltesten Niveau der Konnektivitäten herzustellen und aufrechtzuerhalten. Dabei muß man bedenken, daß die Nutzung dieser Netze immer voraussetzt, daß man in sie ´eintritt´ und mit ihnen, wie es heißt, interagiert. Dieses Eintreten (Immersion) verändert grundlegend die Medienerfahrung von der Betrachtung zur Benutzung, von der vorrangig passiven Sicht auf die broadcasting-Welten zu den interaktiven Suchbefehlen in den programmierten Strukturen immenser Speicherkapazitäten. Immersion und Interaktivität zwischen Mensch-Computer ´laden´ sozusagen den cybernetischen Raum der Datennetze sozial auf. Sie stellen Sozialität im weiten Sinne des Wortes her. Cybernetische Kränkung Die Vorstellung, ein Mensch ´handle´ mit einem programmierten, nicht-menschlichen System, Mensch und Computer träten in eine kurzzeitige Fusion, ist ungewöhnlich. Es ist eine informationelle oder kybernetische Kränkung von herkömmlichem Kultur- oder Individualitätsverständnis, die gerade auch in den Arbeiten von Neil Postman oder Paul Virilio anzutreffen ist. Netztechnologien überspringen die geographischen Gewohnheiten und Orte. Der radikale Wechsel von Orten zu Netzwerken, von ansässigen Sozialitäten zu nicht-ansässigen Sozietäten leitet den Verlust der symbolischen und faktischen Ortsbezogenheit für bestimmte Bereiche der Kommunikation und Kultur ein. Bislang ungeübte, ungewohnte und unbekannte Raum-Zeit-Beziehungen entstehen. In ihnen trifft individuelles Nutzerverhalten direkt auf die programmierten Potentiale globaler Kommunikation. Die programmierten Verbindungen zwischen elektronischen Speichern, Computern, die Übersetzungs (Compiler)-Software, die zwischen Maschinencode und Oberfläche das Schaltungsgeschäft regeln, werden im Moment ihrer Nutzung (und nur in diesem Moment) medial gekoppelt mit den Wahrnehmungs-, Differenzierungs-, Reflexions- und Medienfähigkeiten des Individuums. Technologie, Kompetenz, programmierte Selektionsmaschinen und Nutzungsabsichten bilden einen abstrakt-konkreten sozialen Raum, eine off-line/on-line-Umgebung, die von jedem Nutzer dialogische oder interaktive ´Beteiligung´ verlangt. Es ist - wie mir scheint - nicht der Computer, der als Gerät die Veränderungen erzeugt und die Veränderungsängste bewirkt: es ist die tiefgreifende Veränderung der Wahrnehmungsumgebungen, über die man Orientierung, kreativen Anstoß, Entlastung, oder Anfragen, Eingrenzungen oder Behinderungen erfährt. Vielleicht geht es gar nicht um den wirklichen Ort, der gegenüber den Netztechnologien zu verlieren scheint, sondern um die medienevolutionäre Durchsetzung fluider, unfaßbarer Umgebungen. Sie erzeugen einen massiven Druck in Richtung lernender Anpassung. Sie bewirken ebenso die Einsicht darein, daß weder lokale, soziale noch individuelle Identität jemals ´fertig´ oder ´abschließbar´ sind. Identitätschancen im informationellen Raum sind darauf verwiesen, diesen Raum als einen Kontext der Orientierung erst zu erzeugen. Insofern wird die rationale, affektive, emotionale oder funktionale Selbstzuschreibung, die wir gelernt haben als Identität zu verstehen, eingefaßt in eine Systematik von elektronischen Pseudonymen, anonymen Nachrichten und heteronomen (von anderen fernbestimmten) Umgebungsanteilen. Nun kann man einwenden, daß dies `schon immer so war`. Setzt man ein sehr allgemeines Bild von Mensch-Umwelt-Differenz an, stimmt das auch. Was die Lage zur Zeit aber kennzeichnet ist die Verschiebung der sozialen Inszenierungsbedingungen von jenen verabredeten und `hart` gemachten institutionellen `frames`, zu wachsenden Ansprüchen an die einzelmenschlichen Integrationsleistungen. Kommunikationstheoretisch läßt sich dies als eine Verlagerung der Anpassungsmuster von ´Massenmedien´ zu ´MassenIndividualMedien´ (Volker Grasmuck) benennen. Verkabelung ist nicht Vernetzung Die informationellen Umgebungen machen jede Fiktion eines übergeordneten Steuerungszentrums ebenso zunichte, wie die Ideologie einer erkennbar grundlegenden Autonomie agrarischer, landschaftlicher oder physikalischer Formen. Die digitalen Netzwerke sind zu Bedingungen sozialer Differenzierung geworden und zugleich Räume, in denen sie stattfindet. Sie sind zu Plateaus des Meinungsaustausches, zu Räumen von Auseinandersetzungen, für Verhandlungen, für Betrug und Erkenntnisgewinn, zu Orten gezielter Verblödung oder virtuellen Labors geworden - und das weltweit auch in inzwischen bildlich exzellenten Echtzeitsimulationen (25 Videoframes pro sec.). Es bilden sich offene Kommunikationssysteme, die nicht aus untergeordneten Technikanteilen (Computer, Programm, Server, Stecker, Monitor...) abgeleitet werden können. Elektronische Netzwerke sind längst zu einem Phänomenbereich höherer Stufe geworden; in ihnen entsteht das, was in der Theorie Emergenz genannt wird: eine Erscheinung, die aus niederkomplexen Elementen nicht herleitbar ist. Es ist ein Sprung von den Faustregeln der alltäglichen face-to-face Kommunikation über die Programmierregeln der Maschinencodes und der Übersetzungsprogramme bis zu den Multiversionen ihrer Nutzung, den Multivisionen ihrer Deutungen; bis zu den Modellen eines (?) Multiversums. Netztechnologie ist eine neue ´Große Erzählung´ und eine Vielzahl kleiner Kommunikationsräume. Die Nutzung des elektronischen informationstechnischen Gefüges erzeugt und bewahrt objektives Wissen. Es wird deshalb immer dringlicher, hinreichend komplexe und belastbare Modelle für Netzwerke zu entwickeln. Es folgt Teil 2 |