Der amerikanische Kunsthistoriker Jonathan Crary beschäftigt sich mit der Geschichte des menschlichen Blicks. Für den Professor an der Columbia University in New York sind das Sehen und die menschliche Subjektivität keine ahistorischen Konstanten, sondern durch technologische, soziale und kulturelle Bedingungen geprägt. Technische oder soziale Veränderungen rufen daher Veränderungen der menschlichen Wahrnehmung hervor, die auch in der Kunst reflektiert werden, wie Crary in seinem Buch "Techniques of the Observer" (MIT Press) zeigt, das jetzt auf deutsch erschienen ist (Techniken des Betrachters. Verlag der Kunst, Dresden/Berlin 1996, 56 Mark). "Wenn das Sehen in der kapitalistischen Moderne überhaupt ein daürhaftes Merkmal hat, dann das, dass es ein solches Merkmal nicht mehr gibt", lautet eine These Crarys. Zur Zeit arbeitet er an seinem zweiten Buch, in dem es um das Phänomen der Aufmerksamkeit geht, das für ihn am Ende des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen Problem von Psychologie, Philosophie und Kunsttheorie wird und bis heute ein Leitmotiv der "Gesellschaft des Spektakels" http://www.nothingness.org/SI/debord/SOTS/sotscontents.html
geblieben ist. Im folgenden Interview mit Tilman Baumgärtel (Quelle: Telepolis http://www.heise.de/tp , mit freundlicher Genehmigung des Autors) beschreibt er, was seine "archäologischen Studien" der Frühmoderne für die Gegenwart bedeuten. Baumgärtel lebt als freier Autor in Berlin und im Internet
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?: Herr Crary, unter Medienleuten kursiert die Weisheit: "Aufmerksamkeit ist der wertvollste Rohstoff unserer Zeit." Sie forschen zu Zeit darüber, wie sich die Vorstellungen über die menschliche Aufmerksamkeit historisch verändert haben. Könnten Sie dieses Projekt in Bezug auf unsere Gegenwart genaür beschreiben?
Crary:
Das menschliche Subjekt ist in der Moderne gezwungen, sich permanent an neue technologische und soziale Bedingungen der Wahrnehmung und des Sehens anzupassen. Zur Zeit beschäftige ich mich damit, wie eine bestimmte Vorstellung von Aufmerksamkeit, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt, zu einem Ordnungsmechanismus für das potentielle Chaos des menschlichen Bewußtseins wird. Ohne diese Konzeption von Aufmerksamkeit wäre das menschliche Bewußtsein einem unkontrollierbaren Konglomerat von sinnlichen Reizen aus allen möglichen Richtungen ausgesetzt. Am Ende des 19. Jahrhunderts beginnen plötzlich Leute aus den unterschiedlichsten Disziplinen, sich mit der Fähigkeit des Menschen zu beschäftigen, aus einer unendlichen Zahl von Stimuli eine fokussierte Auswahl zu treffen.
?: Ich bin überrascht, daß Sie das Reglement der Aufmerksamkeit als Kennzeichen der Moderne beschreiben. Seit Baudelaire gilt doch eigentlich der Flaneur mit seinem unaufmerksamen, schweifenden Blick als das moderne Subjekt schlechthin.
Crary:
Genau dieser Binsenweisheit, daß Moderne und Unaufmerksamkeit zusammengehören, wie es in der von Leuten wie Siegfried Kracauer und Georg Simmel beeinflußten Literatur heißt, will ich widersprechen. Natürlich verlangt die kulturelle Logik des Kapitalismus danach, daß wir unsere Aufmerksamkeit ununterbrochen von einer Sache zu einer anderen "umschalten" können. Aber diese Methode des Hin- und Herschaltens ist ja gerade ein wichtiger Bestandteil dieses neuen Reglements der Aufmerksamkeit, das sich Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt. Diese Mechanismen werden benötigt, damit das Subjekt in der Moderne überhaupt noch funktionieren kann, obwohl es diesem ständigen Overkill durch äußere Stimuli ausgesetzt ist.
Was Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt wurde, war die Tatsache, daß es Grenzen der Aufmerksamkeit gibt. Gerade wenn man sich auf etwas besonders konzentrieren will, wird man unaufmerksam und abgelenkt. Darum gab es Versuche, die Aufmerksamkeit einer rigiden Kontrolle zu unterwerfen, um sie produktiv zu machen. Die Fähigkeit, sich zu konzentrieren, ist zum Beispiel von Arbeitswissenschaftlern untersucht worden. Die haben herausgefunden, daß gerade die gespannteste Aufmerksamkeit irgendwann ins Gegenteil umschlägt: Auch wenn ein Arbeiter am Fließband sehr konzentriert einer sich wiederholenden Arbeit nachgeht, wird er nach einer gewissen Zeit in Tagträume abdriften und sein Bewußtsein in einen unproduktiven Zustand freier Assoziationen übergehen. Man hat auch versucht, das zu reglementieren. Aber das hat nie funktioniert, weil es eine gewisse Grenze gibt, ab der so eine Kontrolle die gesellschaftliche Ordnung bedroht und dadurch sozial gefährlich wird, was dann wieder wirtschaftlich unproduktiv wäre.
?: Sie haben Thomas Edison als einen Pionier dieser Neuorganisation von Wahrnehmung beschrieben. Können Sie das erklären?
Crary:
Edison hat das kontinuierliche Neuerfinden der Apparaturen eingeführt, mit denen man Energie oder Sounds oder Bilder als Waren konsumiert. Edison steht für mich für diese ganze kapitalistische Logik, nach der das Subjekt sich ununterbrochen an neue technologische Systeme anpassen muß.
?: Dasselbe, was heute von Microsoft mit Software gemacht wird...
Crary:
Ja, genau. Leute wie Bill Gates, Stephen Jobs oder Andrew Groves arbeiten an diesem historischen Projekt der ununterbrochenen Rationalisierung und Modernisierung der Wahrnehmung weiter.
?: Wie hat dieses moderne Reglement der Aufmerksamkeit unsere unmittelbare Gegenwart geprägt?
Crary:
In der westlichen Hemisphäre verbringen wir immer mehr Zeit in einem Interface mit einer Maschine, mit der wir durch eine Tastatur und einen Monitor verbunden sind. Das ist ein Zustand aufmerksamer, konzentrierter Demobilisierung des Körpers. Die meisten Leute haben dieses Interface und die ungeteilte Aufmerksamkeit, die es verlangt, schon vollkommen akzeptiert. Was mich interessiert ist die Frage: Was ist historisch geschehen, daß wir dieses Interface völlig als alles durchdringendes Modell für kreative und produktive Arbeit angenommen haben? Was für eine Rolle spielt Langeweile in diesem Zusammenhang? Gibt es ein modernes Gegenstück zu der "Träumerei" der Romantiker des 19. Jahrhunderts? Denn ich glaube nicht, daß diese Mensch-Maschinen-Beziehung zwischen uns und dem Computer jemals vollkommen rationalisiert und produktiv gemacht werden kann.
?: Aber trotz des Zustands, den Sie "Demobiliserung des Körpers" nennen, vermitteln einem die digitalen Medien ja die Illusion, sich frei und selbstbestimmt im virtuellen Raum bewegen zu können. Gerade im "raumlosen Raum" des Internet scheint das Subjekt trotz völliger Bewegungslosigkeit "überall und nirgends" zugleich zu sein...
Crary:
Zur Zeit entwickeln sich verschiedene neue Mythen, die von technologische Entwicklungen wie dem Internet ausgelöst worden sind. Es gibt jetzt im Zusammenhang mit diesen neuen Telekommunikationsformen so viele positive Behauptungen, daß ich es langsam für wichtig halte, diese zu hinterfragen - nicht weil ich technologiefeindlich wäre, auch wenn mein Buch oft so mißverstanden wird, sondern weil da so ungenaue, schwammige Begriffe verwendet werden.
Es wird zum Beispiel viel von "Information" und "Kommunikation" geredet. Es wird so getan, als ob gesellschaftlicher Fortschritt identisch wäre mit "Mehr Information" und "Mehr Kommunikation". Dabei müßte eigentlich auch dem oberflächlichen Betrachter auffallen, daß das absurd ist. Die meisten von uns leben heute in einer so entfremdeten sozialen Situation, daß wir nicht mal mit den Leuten von nebenan reden. Was sollen daran noch mehr Faxmaschinen oder Email ändern? Das ist doch nur eine Eskalation des Konsums und nicht eine Verbesserung von sozialer Interaktion.
Mich wundert, daß sich die meisten Menschen diesen technologischen Sachzwängen bemerkenswert geduldig fügen statt sie zu hinterfragen. Man muß jetzt schon alle zwei Jahre einen neün Computer kaufen, wenn man technisch auf dem neuesten Stand sein will. Die meisten Geräte, die wir als Verbraucher benutzen, sind ja schon antiquiert, bevor wir überhaupt verstanden haben, wie man sie bedient. Es gibt bei diesen Geräten so eine Art eingebauter Melancholie darüber, wie selbstverständlich es geworden ist, daß unsere Erwartungen an diese Maschinen ständig enttäuscht werden.
?: Glauben Sie, daß sich unsere Wahrnehmung durch die ununterbrochene Interaktion mit virtuellen Simulationen verändern wird?
Crary:
Niemand wird je vollständig in so einer komischen Cyber-Welt leben, auch wenn das von diesen ganzen "Cyber-Cheerleadern" gerne behauptet wird. Aber ich glaube schon, daß sich durch diese neuen Technologien die Textur unseres Alltagslebens ändern wird. Wir werden uns zwar immer noch während des größten Teils unseres Lebens im wirklichen, euklidischen Raum bewegen, also zum Beispiel in Wohnungen wie dieser (zeigt auf die Wände des Raums in dem wir sitzen). Aber was sich ändern wird, ist die Abruptheit, mit der man von einer subjektiven Zone zu einer anderen springt. Das Alltagsleben wird so eine Art Patchwork sein aus alten, "natürlichen" Wahrnehmungsräumen und den neuen, technologischen Gebieten, in denen ganz andere Raumerfahrungen möglich sind.
?: Ich finde an diesen Virtual-Reality-Simulationen, die man mit dem Computer oder über einen Datenhelm benutzten kann, so erstaunlich, daß sie das alte Camera-Obscura-Modell vollkommen unmodifiziert imitieren. Wohin man sich in diesen dreidimensionalen Environments auch dreht und wendet, man sieht wie bei einem Renaissance-Gemälde immer auf den Fluchtpunkt. Glauben Sie, daß das auch unsere zukünftige Wahrnehmungsweisen beeinflussen wird?
Crary:
Ich glaube, das hat es schon. Bei diesen Simulation gibt es ja überhaupt keine unscharfen Ränder mehr wie bei unserer natürlichen Wahrnehmung. Diese technologischen Räume sind von einer Art Hyper-Klarheit, und manche Neurologen sagen, daß das auch ganz neue Nervenreize und Reaktionen auslösen kann. Es gibt Studien, die zeigen, daß die meisten Leute ihren Fernseher so aufstellen, daß der Bildschirm identisch ist mit dem Teil ihres Gesichtsfeldes, in dem sie ganz scharf sehen. Das bedeutet natürlich auch, daß unser Bewußtsein das unscharfe Umfeld vollständig ausschaltet.